Bibelkanon

Bibelkanon

Bibelkanon, die Sammlung der Biblischen Bücher, in denen die Kirche die Richtschnur (Kanon) des christlichen Glaubens u. Lebens findet. Er zerfällt in den, auch von den Juden anerkannten, Kanon des Alten u. in den des Neuen Testaments. I. Kanon des A. T. Nach allgemeiner Sitte des Alterthums wurden die ältesten historischen u. heiligen Urkunden des jüdischen Volks zur Seite der Bundeslade im Tempel niedergelegt, u. die heiligen Schriften nach u. nach hinzugefügt. Als aber nach dem Exil das Heiligthum fehlte, so machte sich das Bedürfniß einer Sammlung derselben geltend, u. zwar stiftete wahrscheinlich Esra in Verbindung mit andern Männern (Große Synagoge) den jetzigen Kanon des A. T. Gründe zur Aufnahme waren der Wunsch, vaterländische u. nationale Schriften zu sammeln u. die durch innere Kennzeichen u. allgemeine Tradition als vom Geist Gottes eingegeben beglaubigten religiösen Urkunden zu erhalten. Der alttestamentliche Kanon wurde sehr früh schon in 3 Theile eingetheilt: a) der 1. Theil enthielt die Thora (das Gesetz), bestehend aus den 5 Büchern Mosis; b) der 2. Theil die Nebiim (Propheten), u. zwar aa) die hinteren Propheten, die jetzt unter dem Namen Propheten bekannten (außer Daniel), u. bb) die vorderen Propheten, die gewöhnlich Geschichtliche Bücher genannten, die Bücher Josua, der Richter, Samuelis u. der Könige; prophetische Bücher hießen diese wegen ihrer Verfasser, für die man nach der Tradition die Propheten Josua, Samuel, Nathan. u. Jeremias hielt; c) den 3. Theil bildeten die. Ketubim (Hagiographa), bestehend aus den poetischen Büchern Hiob, Psalmen u. Sprüchen, Hohem Liede u. Prediger Salomonis, Ruth, Klageliedern Jeremiä, Esther (bei den Juden die fünf Rollen), den Büchern Esra u. Nehemia (bei den Juden Ein Buch), den Büchern der Chronik u. Daniel. Einige haben diese dreifache Eintheilung in den verschiedenen Graden der Inspiration, od. in der Zeitfolge gesucht. Die Zahl der Bücher wird verschieden angegeben; Josephos zählt 24, die griechischen Juden u. manche Kirchenväter 22, andere 27; auch in der Verbindung der Bücher wich man von den hebräischen Juden ab, wie jetzt das Buch Ruth bei dem der Richter, die Klagelieder bei Jeremias, Daniel unter den Propheten, Esra u. Nehemia, Esther u. die Chronika bei den älteren historischen Büchern stehen. Den in den Kanon aufgenommenen Büchern schrieben die Juden in Palästina u. Alexandrien eine größere Heiligkeit zu, als den später erst dazu gekommenen Apokryphen. Eine Verschiedenheit in Bezug auf den Umfang des Kanons fand bei verschiedenen Parteien Statt: die Samaritaner hatten nur einen Pentateuch in eigenthümlicher Form u. eine Bearbeitung des Buches Josua, alle anderen Schriften verwarfen sie; die Sadducäer verwarfen die Zusätze u. Erklärungen der Pharisäer; die Essener nahmen neben allen Kanonischen Büchern andere heilige Bücher an, apokryphische Schriften berühmter Männer der Vorzeit u. eigener Propheten, heilige Lieder; Christus u. die Apostel nahmen alle Kanonischen Bücher an u. citiren sie unter verschiedenen Bezeichnungen.

II. Kanon des N. T. Bei den ersten Christen war das A. T. einzige Religionsurkunde, u. erst nach u. nach kamen dabei auch die evangelischen u. apostolischen Schriften in Gebrauch. Beiden Apostolischen Vätern finden sich sehr selten Anführungen von Stellen aus dem N. T., öfter Anspielungen auf apostolische Briefe. Im 2. Jahrhundert finden sich bei Justinus Martyr, Tatian, Athenagoras u. Theophilus Bekanntschaft mit den Evangelien u. apostolischen Briefen. Um die Mitte des 2. Jahrh. hatte schon Marcion eine Sammlung von 10 Paulinischen Briefen u. ein verfälschtes Evangelium Lucä. Zu Anfang des 3. Jahrh. stimmten die Kirchenlehrer in den verschiedenen Gegenden, Irenäus, Tertullian, Clemens, in der Annahme der 4 Evangelien, der Apostelgeschichte, der 13 Paulinischen Briefe, des 1. Briefs Petri u. Johannis u. der Offenbarung überein, u. es waren die beiden Sammlungen, das die 4 Evangelien enthaltende Εὐαγγελικόν u. das die Paulinischen Briefe begreifende Λποστολικόν in Gebrauch, wozu später das die übrigen Briefe begreifende Καϑολικόν (s. Katholische Briefe) kam. Von einigen häretischen Parteien wurden einzelne dieser Bücher verworfen u. andere aufgenommen. Die Gründe der Kirche zur Aufnahme dieser waren besonders übereinstimmende Überlieferung, heiliger Inhalt u. die Namen der Verfasser, welche sie trugen. Zu Ende des 3. Jahrh. kannte man auch, so Origenes, den Brief an die Hebräer, den 2. Petri, den 2. u. 3. Johannis u. den des Jacobus, u. hatte eine Sammlung des ganzen N. T. Eusebius theilt das N. T. in 3 Klassen: a) Homologumena, die allgemein als echt apostolisch u. in die neutestamentliche Sammlung[730] gehörend anerkannten 4 Evangelien, 14 Paulinische Briefe, den 1. Brief Johannis u. den 1. Petri; b) Antilegomena, die nicht allgemein, aber von Vielen als echt u. apostolisch anerkannten u. in den Kirchen zum Vorlesen gebrauchten Bücher, den 2. Brief Petri, den 2. u. 3. Johannis, den Brief Jacobi u. Judä u. außerdem auch die Thaten des Paulus, den Pastor des Hermas, die Offenbarung Petri, den Brief des Barnabas u. die Lehren der Apostel; über die Offenbarung Johannis ist er zweifelhaft; c) zur 3. Klasse zählt er die allgemein als unecht anerkannten (Notha), ungereimten u. gottlosen Schriften (Atopa), die durchaus nicht in das N. T. gehören u. nur von Häretikern erdichtet u. aufgenommen worden sind, s. Apokryphen. Vgl. Lücke, Über den N. T. Kanon des Eusebius, Berl. 1817. In neuester Zeit hat sich die sogenannte Tübinger Schule, an ihrer Spitze Baur, eingehend mit der Kritik der Kanonischen Schriften des N. T. beschäftigt, u. behauptet, daß der Gesichtskreis der Erscheinungen, in deren Sphäre der Ursprung der Kanonischen Schriften möglicher Weise fällt, sich nicht blos auf das apostolische, sondern auch auf das nachapostolische Zeitalter erstrecken müsse, namentlich galten ihm Anfangs unter den Paulinischen Briefen die kleineren u. die sogenannten Pastoralbriefe, u. unter den Evangelien das des Johannes als dem letztern Zeitalter angehörend. Doch hat sich die Kritik dieser Schule nach u. nach auch auf die anderen Bücher des Kanon erstreckt u. hat für diese gleiche Resultate geliefert. Vgl. Baur, Die sogenannten Pastoralbriefe des Apostels Paulus, Stuttg. 1835; Paulus, der Apostel Christi, ebd. 1845; Kritische Untersuchungen über die Kanonischen Evangelien, Tüb. 1847; Das Marcusevangelium nach seinem Ursprung u. Charakter, ebd. 1851.

III. Kanon u. Apokryphen. Das N. T. wurde zugleich mit dem A. bei kirchlichen Vorlesungen gebraucht; u. da man sich, wegen Unkunde des Hebräischen, als Übersetzung von letzterem der Septuaginta bediente, so machte man anfangs keinen Unterschied zwischen den Kanonischen Büchern u. den Apokryphen (s.d. 2) a). Sobald aber die gelehrten Kirchenväter darauf achteten, richtete man sich nach der Tradition u. dem Gebrauche der Juden u. unterschied ebenfalls zwischen dem Kanon u. den Apokryphen, obwohl man letztere auch noch brauchte. Im 4. Jahrh. wurden in der Griechischen u. Lateinischen Kirche alle Katholischen Briefe als kanonisch anerkannt, ebenso die Offenbarung Johannis, wenigstens in der Lateinischen Kirche. Beim A. T. hielt man sich im Orient strenger an den jüdischen Kanon u. unterschied zwischen den Büchern desselben u. den Apokryphen, unter denen man bes. erdichtete u. ketzerische Schriften verstand; im Occident nahm man mehrere Apokryphen auf. Die Synoden von Carthago 397 u. 419 bestätigten den größten Theil der Apokryphen des A. T. als kanonisch, u. obwohl Gelehrte wie Hieronymus den jüdischen Kanon festhielten u. diesem auch Nicol. Lyra noch folgte, so wurde später doch die Willkühr immer größer, so daß man nicht nur Apokryphen unter die Kanonischen Bücher, sondern auch Kanonische Bücher unter die Apokryphen rechnete. Die Protestanten kehrten zum Jüdischen Kanon zurück u. sonderten von ihm die in unsern Bibelausgaben als Apokryphen bezeichneten. In Bezug auf das N. T. stimmten sie mit der ganzen Kirche überein. Im Gegensatz gegen sie u. gestützt auf die kirchliche Autorität bestimmte die Katholische Kirche auf dem Concil zu Trient, daß alle Bücher der Vulgata, also auch die Apokryphen, heilig u. kanonisch seien. Um diesen, mit der älteren Tradition in Widerspruch stehenden Ausspruch zu mildern, unterschieden gelehrte Katholiken zwischen Protokanonischen Büchern (Libri homologumeni), die allgemein u. überall als göttlich anerkannt, u. Deuterokanonischen Büchern (Libri antilegomeni), die nicht allgemein angenommen u. von Einigen bezweifelt werden. Zu letztern gehören aus dem A. T. die Apokryphen, aus dem N. T. der Brief an die Hebräer, der 2. Petri, 2. u. 3. Johannis, Brief Jacobi u. Judä u. die Offenbarung Johannis. Den ersteren wird ein größeres Ansehen zugeschrieben. Die Griechische Kirche stimmt in Bezug auf den Kanon mit der Protestantischen überein. Über den Bibelkanon: Semmler, Halle 1771–75, 4 Thle.; Schmid, Lpz. 1775; Corrodi, Halle 1792; Weber, Tüb. 1791, u. die Einleitungen in die Bibel, s. Bibel VII.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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